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Lesung und Gespräch: Wut und Wertung

Zum Auf­takt des Win­ter­se­mes­ters lädt der Stu­di­en­gang Ethik der Textkul­turen re­gel­mä­ßig re­no­mmierte Wis­sen­schaftlerinnen und Wis­sen­schaftler ein, die zu ak­tuel­len Themen for­schen. In die­sem Jahr war der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Dr. Jo­han­nes Franzen (Mannheim) zu Gast. Sein Er­folgsbuch „Wut und Wer­tung“ fragt nach den sozi­alen Me­cha­nis­men und äs­the­ti­schen Überzeu­gun­gen, die dazu füh­ren, dass man über Ge­schmack sehr wohl – und zwar sehr hef­tig – strei­ten kann.

Langeweile als ästhetische Grunderfahrung?

„Zum Gähnen“, „sterbenslangwei­lig“, „to­des­langwei­lig“, „sehr zäh“ und „furchtbar langwei­lig“ – diese Ur­teile zi­tierte Jo­han­nes Franzen aus Re­zen­sio­nen auf digi­talen Platt-for­men wie Goodreads. Doch der Text, der hier so ein­hel­lig ver­flucht wird, ist ein un­be­strit­tener Klassiker der deut­schen Lite­ra­tur­ge­schichte: The­odor Fon­tanes Effi Briest. Schon wäh­rend Franzen das in einer ers­ten Le­sung aus Wut und Wer­tung (2024 bei S. Fi­scher er­schienen) auf­löst, meinte man im Pub­li­kum ge­gen­sätz­liche Re­akti­onen zu spü­ren: er­leichterte Zu­stimmung ei­ner­seits, eine ge­wis­se Em­pö­rung bei an­de­ren. 

Um­so inte­res­san­ter und er­hel­len­der war dann das Ge­spräch, das sich über sol­che Klassi­ker­schelte ergab. Mit Ste­pha­nie Waldow, Spreche­rin des Elitetu­di­en­gangs „Ethik der Textkul­tu­ren“, und Matthias Lö­we, In­ha­ber des Lehrstuhls für Neu­ere deut­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft in Augsburg, frag­te Jo­han­nes Franzen nach mög­li­chen Gründen: Mag es eine Rol­le für die Wer­tung spie­len, dass die Re­zep­tion be­rühmter Werke oft – man den­ke an Schullek­türen und uni­ver­sitä­re Le­selis­ten – nicht ganz frei­wil­lig er­folgt? Ver­hin­dert das La­bel „Klassi­ker“ viel­leicht manchmal, dass wir uns ohne Vor­ur­teile ei­nem Text nä­hern? Wie kommt es überhaupt zu den Wertzu­schrei­bun­gen, die ei­nen Ka­non bil­den? Wer und mit wel­cher Au­tori­tät ent­scheidet ei­gent­lich, wel­che Kunst über Jahrhun­derte sichtbar bleibt und wel­che nicht?

Kunstfreiheit zwischen Provokation und Heldengeschichte

In einer zweiten Le­sung erin­nerte Jo­han­nes Franzen an die De­batte um Eu­gen Gomrin­gers Gedicht cuidad (avenidas). Dieses schmück­te die Fas­sade der Ali­ce-Salo­mon-Hoch­schule in Ber­lin. Mit dem Hinweis, der Text in­sze­niere ei­nen männlich be­wundern­den Blick auf Frauen, ver­lang­te eine stu­den­ti­sche Peti­tion, ihn aus dem öf­fent­li­chen Raum zu ent­fer­nen. In der fol­gen­den hef­tigen Kontro­verse wur­de den Stu­die­ren­den Zen­sur und „barbari­scher Schwachsinn“ vor­ge­wor­fen. Demge­gen­über bil­dete sich ein mächti­ges Bündnis aus Kul­turjourna­lis­mus und Au­toren, das für sich in An­spruch nahm, die Kunstfreiheit vor den Stu­die­ren­den zu ver­tei­di­gen. Auf der Bühne war man sich ei­nig, dass sol­che Aus­ei­nander­set­zun­gen dif­fe­ren­zier­ter be­trachtet wer­den müssten. Schließ­lich handle es sich auch um ei­nen Fall, bei dem man von „Phantom­zen­sur“ spre­chen kön­ne. 

Am Ende stand auch die Erkenntnis, dass die Über­legungen über Wut und Wertung auch viele Fragen von Ethik und Ästhetik betreffen, die den Elite­studien­gang seit langem beschäftigen: Wer über Geschmack streitet, streitet implizit auch über Fragen der Moral. 

Text: Elitestudiengang „Ethik der Textkulturen“